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Digitalisierung & IoT-Projekte – Stresstest für Unternehmen

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  • Die besondere Herausforderung: IoT Projekte sind interdisziplinär, cross-funktional und hoch komplex.

  • Erfolg hängt ab vom Treiber: Vorentwicklung, Visionär oder Innovation-Hub.

  • Das Innovationspotenzial liegt im Produktumfeld als Testfeld für neue Services.

Die Digitalisierung und die damit einhergehenden IoT-Projekte können Unternehmen ganz schön fordern. Das gilt nicht nur für den Maschinen- und Anlagenbau. Diese Projekte sind anders, sie zerren gewaltig an gewachsenen Organisationsstrukturen, erzwingen Veränderung und können sich so zu regelrechten Stresstests für viele Unternehmen entwickeln. Doch wie viel Stress Digitalisierungsprojekte in einem Unternehmen wirklich mit sich bringen und wie erfolgreich sie sind, hängt entscheidend von der Strategie und der Herangehensweise ab. Drei Beispiele und was wir daraus lernen können.

Digitalisierung betrifft jede Branche

Alle Hersteller müssen sich derzeit auf neue Wettbewerber einstellen: unerwartete Quereinsteiger wirbeln eine Branche nach der anderen auf. Im Einzelhandel, bei den Medien und in der Werbung ist dieser Umbruch schon seit über 15 Jahren in vollem Gange (vgl. Alibaba und Amazon im Handel, Facebook als größter Medienkonzern), die Energiewirtschaft ist seit 10 Jahren dran (virtuelle Kraftwerke, Vergleichsportale, Nest), die Banken und Versicherungen seit ca. 5 Jahren (Fintechs, Paypal, Number26, Crowdfunding-Plattformen, Bitcoin) und der Maschinenbau legt derzeit mit“Industrie 4.0″ so richtig los. Und Morgen wird es alle anderen Branchen treffen!

Wodurch unterscheiden sich IoT Projekte von klassischen Projektvorhaben?

Meine Beobachtungen in der Folge habe ich den Branchen Maschinen- und Anlagenbau, Medizinprodukte und Consumer entnommen – also i.d.R. Verknüpfungen digitaler Wertschöpfung mit physischen Produkten. Was also macht IoT-Projekt so „stressig“? Wodurch unterscheiden sie sich von klassischen Projekten? Sie sind in erster Linie:

  • interdisziplinär (Hardware, Vernetzung, Software)
  • cross-funktional im Unternehmen (Produktmanagement, Vertrieb, R&D, Unternehmens-IT, Produktions-IT)
  • involvieren alle Entwicklungsdisziplinen: Mechanik/Konstruktion, Elektronik/Sensorik, Embedded Software, Connectivity, Cloud Computing, App Entwicklung, Integration mit Unternehmens-IT,  IT Security (keine abgeschotteten Systeme – Sensorik ist prinzipiell über Internet erreichbar)
  • hoch komplex
  • vergleichsweise einfach zu handhaben (Usability verdeckt die innere Komplexität)
  • hoch skalierbar mit großen Unsicherheiten (wie vielen Anwendern wird die spätere Lösung nutzen?)

IoT-Projekte sind also besondere und komplexe Vorhaben. Ebenso ist ein hohes Maß an Kreativität erforderlich, um ausgehend von der Digitalisierungsstrategie neuen Geschäftsmodellen zum Durchbruch zu verhelfen. Daher reicht es oftmals nicht, die eigene IT mit der Umsetzung eines weiteren Projekts zu beauftragen. Komplexe Projekte erfordern vielfältige Kompetenzen, unterschiedlichste Stakeholder und ziehen massiv an bisher eingespielten Organisationsformen.
 

Organisatorische Verankerung im Unternehmen

Vorentwicklung beauftragen
Eine Herangehensweise, die ich bei einem unserer Kunden aus dem Maschinenbau beobachten konnte, ähnelt der „IT der zwei Geschwindigkeiten“: Die Verantwortung für das IoT- oder Digitalisierungsprojekt wandert in die Vorentwicklung mit dem Ziel einer schnellen Umsetzung.

Dieser Ansatz funktionierte vor allem zu Beginn recht gut: das Projekt gewann in kurzer Zeit an Fahrt, das Team entwickelte selbstständig eigene Ideen zur Lösungsfindung und es konnten schnell erste Ergebnisse geliefert werden. Auf mittlere Sicht zeigten sich aber auch Schattenseiten dieses Vorgehens: Nicht-funktionale Anforderungen wurden vernachlässigt (was starke Rückwirkungen auf die Architektur hatte), Betriebsthemen wurden ausgeklammert (was aufwändige Nacharbeiten mit sich brachte), Backend-IT Systeme wurden nicht integriert (wodurch zusätzliches Budget benötigt und die Deadline erheblich überschritten wurde). Die Vorentwicklung verselbstständigte sich, eine geordnete Produktentwicklung ging verloren. Beides ist nur noch schwer zu integrieren. 

Doch an diesem Beispiel war nicht alles schlecht: Nach meiner Einschätzung ist dieses Vorgehen gut geeignet, um initiale Ideen schnell zu verifizieren und einen ersten Proof of Concept (PoC) zu bauen. In der nächsten Phase sollten aber frühzeitig Kunden und alle weiteren Stakeholder integriert werden, um so den oben benannten Projektrisken entgegen zu wirken.

Visionär gibt Linie vor

Bei einem Industriekomponenten-Hersteller trafen wir auf einen Visionär, der zusammen mit uns eine innovative IoT-Plattform für zukünftige Digitalisierungsanforderungen inklusive neuer Geschäftsmodelle aufbauen wollte. Mit viel Euphorie starteten wir dieses Projekt und setzten Punkt für Punkt die Anforderungen des Visionärs um.  Leider stellte sich viel zu spät heraus, dass es im Konzern zwei völlig konträre Produktfamilien gab:

  • Standort1: hochkomplexes Industriekomponenten-System, hohe Anforderungen, visionäre Stakeholder, niedrige Stückzahlen, geringes Geschäftsvolumen
  • Standort2: einfache Industriekomponente, wenig Anforderungen, bodenständiges Produktmanagement, sehr hohe Stückzahlen, „Brot- und Butter-Geschäft“ – davon lebt die Firma!

Der Standort 1 hat über den durchsetzungsstarken Visionär die gesamte IoT Entwicklung in seinem Sinn getrieben. Dadurch entstand der irreführende Eindruck, dass wir zügig und schnell zum fertigen Produkt gelangen (Methoden: Lean Startup, MVP). Erst zu einem späten Zeitpunkt kamen für uns völlig überraschend neue Stakeholder aus dem Standort 2 dazu. In der Folge entstand ein heilloses Durcheinander, viele neue Ziele wurden definiert, widersprüchliche Ansätze und Anforderungen waren die Folge. Das Projekt musste neu aufgesetzt, Anforderungen drastisch reduziert und auf die heute aktuellen Erfordernisse von Standort 1 zurechtgestutzt werden. Denn diese Anforderungen waren wesentlich für den zukünftigen Markterfolg des Gesamtunternehmens.

Ein Visionär ist zu Beginn eines Projekts immer hilfreich, um die ersten Ideen zu entwickeln und ein Projekt ins Rollen zu bringen. Bereits im nächsten Schritt sollte man aber unbedingt darauf achten, dass alle wesentlichen Stakeholder mit im Boot sind. 
 

Innovation Hub, Innovation-Lab, Digital Partners, U-Boot-Abteilung, …

Ein weiterer beliebter Ansatz, den wir bei vielen Kunden erleben ist, die für die Digitalisierung benötigte Kreativität einfach auszulagern. Die entsprechenden Konstrukte tragen ganz unterschiedliche Namen: Innovation Hub, Innovation-Lab, Digital Partners, U-Boot-Abteilung usw. Im Kern geht es darum, Kreativität und Technologie zusammenzubringen – häufig räumlich bewusst getrennt von allen bisherigen Unternehmensstandorten. Das Problem: Diese Labs sind nicht nur sehr kostenintensiv, sondern oft auch wenig erfolgreich. Gemäß einer Studie von Cap Gemini scheitern sie in über 80% aller Fälle. 

Eine weitere Studie von Forbes nennt konkrete Gründe für dieses Scheitern: Die Labs sind nur kreativ und nicht innovativ! Sowohl das Geschäftsmodell als auch die Organisation werden stark vernachlässigt. Im Ergebnis veranstalten viele dieser Konstrukte nur Innovationstheater: es ist bunt und anders, es macht Spaß, es ist kreativ und erfolgt in coolen Locations. Aber ihr Handeln liegt nicht auf Linie mit den strategischen Zielen des Gesamtunternehmens. Daher haben die Aktivitäten keinen Fokus, zahlreiche Versuche verbinden sich mit gleichzeitigem Festhalten an schlechten Ideen – und am Ende wird kein Gewinn und Nutzen für das Unternehmen generiert.

Wie sich das verhindern lässt, zeigt beispielhaft der Ansatz eines unserer Kunden mit hochpräzisen Maschinen. Er hat für seine Digitalisierungsprojekte folgende zwingenden Voraussetzungen definiert:

  • Ein Product Owner aus dem Fachbereich steht zu 100% seiner Zeit dem Team des Innovation Labs zur Verfügung. Dadurch werden Bodenhaftung und Fokussierung auf die Unternehmensziele generiert. 
  • Jedes Projekt braucht zwingend einen Vertreter der Geschäftsleitung als Sponsor. Digitalisierungsprojekte sind Chef-Sache. Ohne diesen Rückhalt verkümmern viele Ansätze.
  • Frühe Durchführung von professionellen Kundeninterviews gemeinsam mit dem Vertrieb. Die „Voice of the Customer“ gibt schnelle Rückmeldung bezüglich Bedarf & Nutzen der Idee.
  • Co-Creation im Projekt etablieren. Durch die Zusammenarbeit von Auftraggeber, Kunden und externen Innovations- und Entwicklungspartnern ergänzen sich Anforderungen und Umsetzungskompetenz von Anfang an. 
  • Das Team wird kontinuierlich auf konkrete priorisierte Ergebnisse verpflichtet. Dadurch wird ein konkreter Nutzen erzeugt und zu verspielte Ansätze schnell fallengelassen.

Dieses Vorgehen führte zur konsequenten Umsetzung des großen Ziels: die digitale Transformation der Geschäftsbereiche voran zu bringen und nachhaltig zu beschleunigen (siehe dazu auch „Rent-a-Startup“). Das heißt natürlich nicht automatisch, dass diese Vorgehensweise für jedes Unternehmen die richtige ist. Aber das Beispiel zeigt, dass Digitalisierungsprojekte nicht automatisch aus dem Ruder laufen und in einen Stresstest ausarten müssen. 
 

Erfolgsfaktoren für Digitalisierungsprojekte

Was sind also die entscheidenden Faktoren, um Projekte von Anfang an organisatorisch, technisch und fachlich erfolgreich auszurichten? 

Silo-Denken in Technologie und Business überwinden 
Wie bereits erwähnt, sind Digitalisierungsprojekte komplex und interdisziplinär. Dennoch treffen wir sehr häufig auf kontraproduktives Silo-Denken in vielfältigen Situationen:

Entwicklung denkt in Silos

  • Getrennte Entwicklungsabteilung für Mechanik/Konstruktion
    • Getrennte Entwicklungsabteilung für Elektronik/Sensorik
    • Getrennte Entwicklungsabteilung für Embedded Software 
    • Getrennte Unternehmens-IT mit Cloud & App Entwicklung
    • Business denkt ebenfalls in Silos: Vertrieb, Marketing, Produktion, Einkauf…
  • Konzern denkt in Silos: je Standorte, je Marke, je Produkt…

Das ist nicht zielführend, denn der Trend in Digitalisierungsprojekte zeigt klar in Richtung Interdisziplinarität. „Think big“ lautet hier die Devise: 

  • Von einem Entwicklungsbereich zu mehreren Entwicklungsbereichen
  • Vom Einzelprodukt zu unterschiedlichen Produkten
  • Von einem Geschäftsbereich zu mehreren Geschäftsbereichen
  • Von einem Werk zu mehreren Werken

Als wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung muss somit vorhandenes Silo-Denken überwunden werden. 
 

Digitale Innovationen: Produktumfeld zeigt Potenzial für neue Services auf

Auch fokussieren wir uns häufig sehr stark auf das technische Produkt. Dabei übersehen wir, wie wichtig eine Betrachtung des Umfelds gerade für Digitalisierungsprojekte ist:

  • Was wird mit dem Produkt gemacht?
  • Wie wird das Produkt eingesetzt? 
  • Gibt es Grenznutzer, die das Produkt so einsetzen, wie es eigentlich nicht gedacht war (zeigt dies womöglich neues Potenzial auf)?
  • Welche Probleme der Nutzer sind bisher nicht gelöst?

Gerade dadurch eröffnen sich neue Geschäftsmodelle, z.B. durch Erweiterung vom Produkt- zum Servicegeschäft oder neue Betreibermodelle (Pay per Use, Verfügbarkeit und nicht Kauf, Performance, Miete…). Selbstverständlich ist das auch eine große Herausforderung für die gesamte Organisation, denn ein klassisches Produktunternehmen muss dann ebenfalls sehr stark verändern. Und dies betrifft nicht nur die Entwicklung, sondern in gleicher Weise Produktmanagement, Vertrieb und Service um nur einige zu nennen.
 

Key-Learnings aus Digitalisierungsprojekten

Zusammenfassend gebe ich Ihnen noch die wichtigsten 8 Erkenntnisse zur erfolgreichen Umsetzung von IoT Projekten an die Hand:

  • Digitalisierung ist Chef-Sache und betrifft das gesamte Unternehmen (ohne Commitment der Geschäftsleitung stellt sich kein Erfolg ein)
  • Kannibalisiere dich selbst – sonst machen es andere (keine Angst vor neuen Geschäftsmodellen, denn diese Angst kennt Ihr Wettbewerb auch nicht)
  • Vielfältige Stakeholder erzeugen Komplexität (und die muss beherrscht werden)
  • Ein einzelner Visionär ersetzt keinen Business Case (und vernichtet Investitionskapital)
  • Zuerst Business Case – dann Technologieentscheidung (Technologie ist i.d.R. Enabler und folgt aus dem Use Case)
  • Innovation Hub benötigt Bodenhaftung (sonst erfolgt nur „Innovations-Theater“)
  • Vorentwicklung rechtzeitig „einfangen“ (um sich auf den erfolgskritischen Scope zu fokussieren)
  • Digitale Mehrwerte sind unser USP von morgen (Hardware wird zukünftig immer austauschbarer)

Eine erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierungsstrategie ist ein komplexes Unterfangen und sollte sich auf erfahrene Partner abstützen. Denn das digitale Geschäft verläuft schnell, Fehler kosten wertvolle Zeit im Sinne von Time-to-Market. Nutzen Sie externe Kompetenz, um Business Innovationen und technische Umsetzung zum Erfolg zu führen! 

Zu diesem Thema habe ich übrigens auch auf dem MS Industry Day einen Vortrag gehalten, den Sie auf Youtube anschauen können. 

Sehr gerne steige ich mit Ihnen in diese Diskussion ein – von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt! 
 

Jörg Sitte
Ansprechpartner für Deutschland

Jörg Sitte

Director Business Development

Jörg Sitte verantwortet als Director Business Development die Geschäftsentwicklung der Branchen Maschinen-/Anlagenbau und MedTech in Süddeutschland. Er beschäftigt sich intensiv mit IoT und Digitalisierungsprojekten sowie allen dafür erforderlichen Disziplinen wie Software (Embedded, Cloud und Apps), Elektronik, Sensorik und Mechanik/Konstruktion. Er ist davon überzeugt, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen immer stärker von einer erfolgreichen Digitalisierungsstrategie bestimmt wird. 

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