8 Minuten Lesezeit Mit Insights von Albert Frömel Ehemaliger Industry Lead Health & Life Sciences Im Mai 2022 kündigten das EU-Parlament und die Kommission einen Entwurf zur Schaffung eines Europäischen Raums für Gesundheitsdaten (European Health Data Space, EHDS) an. Als Eckpfeiler der sogenannten „European Health Union“ zielt der EHDS primär auf einen erleichterten und verbesserten Zugang zu Gesundheitsdaten und deren Nutzung für Bürger, Healthcare Professionals sowie Forschende in der EU ab. Für den Healthcare-Sektor ergeben sich daraus große Chancen, denn Unternehmen können in der Folge auf anonymisierte elektronische Gesundheitsdaten zugreifen und sie zu Innovations- und Forschungszwecken nutzen. Für Medizintechnik- und Pharmaunternehmen stellt sich somit die Frage: Welche Vorbereitungen sollten hierfür getroffen werden? Gesundheitsdaten in der EU – eine Herausforderung EU-Bürger, die Zugang zu ihren persönlichen Gesundheitsdaten haben möchten, müssen derzeit so manche Hürden überwinden. In Deutschland etwa sind Krankenkassen seit 2021 gesetzlich dazu verpflichtet, ihren Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) zur Verfügung zu stellen. Unter Angehörigen von Gesundheitsberufen herrscht diesbezüglich aber noch geringe Akzeptanz. Gleichzeitig kommen entsprechende Apps zur Verwaltung von ePAs noch nicht flächendeckend zum Einsatz – teilweise auch aufgrund geringer Benutzerfreundlichkeit. Ein Hauptgrund dafür ist die uneinheitliche Umsetzung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in den EU-Mitgliedstaaten, wodurch Unsicherheit bezüglich der Frage entsteht, wann eine rechtmäßige Datennutzung vorliegt bzw. was eine solche ausmacht. Und Unterschiede im Digitalisierungsgrad zwischen den einzelnen EU-Ländern erschweren einen nahtlosen, grenzüberschreitenden Datenzugang zusätzlich. Verordnungen zur sicheren Nutzung von Gesundheitsdaten existieren bereits seit Langem, und die EU hat das Recht auf Zugang zu den eigenen Gesundheitsdaten für jeden EU-Bürger auch explizit festgelegt. Dennoch tragen viele von uns in der Praxis ihre Daten nach wie vor gedruckt, auf CD-ROM oder DVD von einem Arzt zum nächsten. Der Digitalisierungsgrad ist selbst bei Healthcare-Anbietern und Krankenkassen noch sehr gering. Durch verlorengegangene Daten kommt es jedoch zu unnötigen Mehrfachuntersuchungen oder ungeeigneten Behandlungsmethoden aufgrund falscher Verschreibungen. Dadurch wird Patienten eine wirksame bzw. innovative Behandlung vorenthalten – unnötige Stolpersteine in ihrem Heilungsprozess. Auch im Forschungs- und Innovationsbereich besteht diese Problematik. Für Wissenschaftler in Life-Science-Unternehmen und Forscher an Universitäten stellt der Zugang zu Patientendaten eine grundlegende Hürde dar. Und auch im Bereich neuer digitaler Technologien wie AI ist Datenmangel ein zentrales Problem. Dieses wiegt umso schwerer, da diese Technologien zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen unserer Gesundheitssysteme – vom Ärztemangel in einzelnen Regionen über personalisierte Medizin bis hin zu zahlreichen durch den demografischen Wandel bedingte Problemstellungen – eine Schlüsselrolle einnehmen. Der European Health Data Space (EHDS) Der EHDS – ein EU-Entwurf zur Schaffung eines sektoralen Raums für hochsensible Gesundheitsdaten – soll Lösungsansätze für die oben beschriebenen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung und dem Zugang zu Gesundheitsdaten bieten. So sollen Einzelpersonen nach erfolgter Einführung die Kontrolle über ihre eigenen Gesundheitsdaten bewahren und EU-weit jedem – insbesondere Healthcare Professionals – Zugang zu ihren Daten gewähren können. Auch der Healthcare-Sektor wird maßgeblich vom EHDS profitieren, da er Forschern, Innovatoren und politischen Entscheidungsträgern eine sichere und vertrauenswürdige Nutzung der elektronischen Gesundheitsdaten unter strengem Schutz der Privatsphäre ermöglichen soll. Die Weiterverarbeitung von elektronischen Gesundheitsdaten (gemeinhin als Sekundärnutzung bezeichnet) bietet im Forschungs-, Innovations- und Regulierungsbereich sowie für die personalisierte Medizin herausragende Chancen, um Innovationen im Healthcare-Sektor schneller voranzutreiben – mehr noch als das Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) der Bundesrepublik Deutschland. Das PDSG, das planmäßig 2023 in Kraft treten soll, räumt Patienten die Möglichkeit ein, ihre Gesundheitsdaten für Forschung und Wissenschaft (nicht kommerzielle Nutzer) zu spenden. Bis 2030 sollen im Rahmen der EU-Strategie „Europas digitale Dekade: digitale Ziele für 2030“ alle Bürger Zugang zu ihren Patientenakten bekommen – ein ambitioniertes Ziel, bei dem der EHDS eine tragende Rolle spielt. Neue verbindliche Anforderungen und Zertifizierungen Zur Schaffung eines einheitlichen Systems für den gesamten EU-Raum liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch. Favorit ist derzeit ein rechtlicher Rahmen der, der dann in den einzelnen Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene umgesetzt werden soll. Anbieter von elektronischen Patientenakten (EHR-Systeme), Hersteller von Medizinprodukten und Anbieter von Hochrisiko-KI-Systemen werden durch den neuen Rechtsrahmen zu einer speziellen Zertifizierung ihrer Produkte verpflichtet. Sowohl der Betrieb als auch die Zertifizierung von EHR-Systemen und Medizinprodukten, die im Rahmen dieser Systemen funktionieren sollen, werden verbindlichen Anforderungen unterliegen. Eine zusätzliche freiwillige Kennzeichnung für Wellness- und Fitness-Apps könnte darüber hinaus Transparenz für Nutzer und Anbieter auch in diesem Bereich schaffen sowie für Hersteller Hemmnisse im grenzüberschreitenden Handel abbauen. Neues Datenaustauschformat Die Primärnutzung von Gesundheitsdaten ist im Rahmen des vorgeschlagenen EHDS unter anderem für folgende Zwecke vorgesehen: Patientenakten elektronische Verschreibungen bzw. Rezepte elektronische Abgaben medizinische Bilder und Bildbefunde Laborergebnisse Entlassungsberichte Zur Einhaltung des neuen EU-Rechtsrahmens müssen alle Anbieter, die Lösungen für die zuvor genannten Zwecke bereitstellen, diese entsprechenden Anpassungen unterziehen. In Anbetracht der Tatsache, dass viele EU-Staaten nach wie vor mit der Umsetzung landesweiter elektronischer Patientenakten zu kämpfen haben, ist dies sicherlich kein leichtes Unterfangen. Durch das neue europäische Austauschformat für elektronische Patientenakten soll eine ausreichende Datenqualität für neue Anwendungsfälle gewährleistet werden. Das betrifft unter anderem Elemente wie Datenfelder und -gruppen, Kodierungssysteme sowie technische Spezifikationen für den Datenaustausch. Einheitliche Datenformate gewährleisten Herstellern, die auf qualitative Daten angewiesen sind, dass auf diesen Daten basierende Modelle und Lösungen auch den hohen Anforderungen der Zukunft genügen. Gleichzeitig bedeutet dies für die Hersteller einen erheblichen zusätzlichen Arbeitsaufwand, den es zu bewältigen gilt. Die Sekundärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten Regelungen zur Sekundärnutzung von elektronischen Gesundheitsdaten sind für den Healthcare-Sektor wohl der wichtigste Teil des EU-Entwurfs zur Schaffung des EHDS. Der fehlende Zugang zu hochwertigen Gesundheitsdaten stellt für viele Organisationen eine große Hürde bei der Wertschöpfung durch digitale Innovationen dar. Eine EU-Norm zur Lösung dieser Problematik, die auch höchsten ethischen Anforderungen entspricht, ist somit ein echter Gamechanger. Erstmals hat der Gesetzgeber nun ein Konzept vorgelegt, das die besagte Sekundärnutzung regelt. Dieses Konzept beinhaltet eine detaillierte Beschreibung der Datenkategorien, die Forschern zur Verfügung gestellt werden, wobei unter anderem folgende Kategorien umfasst sind: elektronische Patientenakten, Gendaten, aus klinischen Studien gewonnene Gesundheitsdaten sowie Real World Data (einschließlich Daten, die durch Medizinprodukte und Wellness-/Fitness-Apps generiert werden). Die folgende Auflistung zeigt die wichtigsten Sekundärnutzungszwecke für die Sektoren Healthcare, Life-Science und Medizinprodukte: Entwicklungs- und Innovationstätigkeiten für Produkte oder Dienste, die zur öffentlichen Gesundheit oder sozialen Sicherheit beitragen Training, Erprobung und Bewertung von Algorithmen in Medizinprodukten, AI-Systemen und digitalen Gesundheitsanwendungen (darunter auch DiGAs) Bereitstellung einer personalisierten Gesundheitsversorgung, bei der der Gesundheitszustand einer natürlichen Person auf der Grundlage der Gesundheitsdaten anderer natürlicher Personen bewertet, erhalten oder wiederhergestellt wird Der EHDS – was ändert sich? Der EHDS wird sich auf nahezu alle Akteure im Healthcare-Sektor auswirken: Anbieter von EHR-Systemen müssen ihre bestehenden Produkte künftig Updates und Zertifizierungen zur Einhaltung der neuen EHDS-Datenaustauschstandards unterziehen, was in Anbetracht der Tatsache, dass ihre Produkte sowohl nationalstaatlichen als auch EU-Vorschriften zu entsprechen haben, mit einem erheblichen Aufwand verbunden sein wird. Hersteller von Hochrisiko-AI-Systemen, die mit EHR-Systemen interagieren, stehen hinsichtlich der Zertifizierung ihrer Systeme und der Einhaltung der neuen Rechtsvorschriften sowie der nötigen Infrastrukturkompatibilität vor ähnlichen Herausforderungen wie Anbieter von EHR-Systemen. Hersteller von Medizinprodukten werden an den Schnittstellen zu den zuvor genannten Systemen betroffen sein, bzw. dort, wo ihre Produkte für eine Interaktion mit EHDS-Anwendungen oder Infrastrukturen vorgesehen sind. Ein Rechtsrahmen, der die Sekundärnutzung elektronischer Gesundheitsdaten ermöglicht, wird sich auch auf den Life-Science-Sektor auswirken. Neue Chancen und Möglichkeiten werden entstehen, die sich Life-Science-Unternehmen bewusst machen müssen und für die es die passenden Strategien braucht. Auch auf Hersteller von Wellness- und Fitness-Produkten (z.B. Wearables) kommen tiefgreifende Veränderungen zu, die einen Paradigmenwechsel gegenüber dem Consumer-Health-Markt bedeuten. Derzeit sind freiwillige Zertifizierungen für Wellness- und Fitness-Produkte Gegenstand der Diskussionen, was eine Anbindung solcher Produkte an EHR-Systeme ermöglichen würde. Dadurch könnten weitere nützliche Datensätze generiert werden. Empfehlungen zur Vorbereitung Aktuell ist der EHDS noch ein reiner Entwurf auf EU-Ebene zur Schaffung eines Datenraums für den Health-Sektor. Dieser Entwurf wird seit Jahren entwickelt und basiert auf intensiver Forschung und Analysearbeit. Deshalb ist es realistisch davon auszugehen, dass ein Teil des EHDS – wenn nicht sogar der Großteil – auf nationalstaatlicher Ebene umzusetzen sein wird. Nachfolgend haben wir vier Empfehlungen für Medizintechnik- und Pharmaunternehmen aufgelistet. Diese sollen dazu beitragen, einen besseren Umgang sowohl mit den Herausforderungen als auch den Chancen und Möglichkeiten, die der EHDS mit sich bringt, zu ermöglichen: Entwickeln Sie eine eigene Datenstrategie bzw. bauen Sie Ihre bestehende Strategie aus: Sie sind ein Anbieter von EHR-Systemen, Hersteller von Medizinprodukten oder ein Pharmaunternehmen? Dann benötigen Sie, um den zuvor beschriebenen Entwicklungen Rechnung zu tragen, in jedem Fall Ihre eigene Datenstrategie oder sollten Ihre bestehende Strategie ausbauen. Stellen Sie außerdem sicher, dass die nötigen Skills und Ressourcen vorhanden sind, damit Sie den bevorstehenden Zugang zu Gesundheitsdaten vorteilhaft für sich nutzen können. Halten Sie sich bei der Anwendung von KI im Pharma- und Life-Science-Sektor an bewährte Verfahren Durch die größere Datenverfügbarkeit wird die Nachfrage nach (validen) Daten sowie KI-basierten Lösungen steigen. Die Einhaltung der fünf Prinzipien für die Nutzung von KI im Pharma- und Life-Science-Sektor wird dadurch noch wichtiger. Bereiten Sie die IT-Landschaft Ihres Unternehmens auf die bevorstehende Datennutzung vor Denken Sie an den Aufbau von Know-how im Bereich Data Enablement und evaluieren Sie für sich das Potenzial regulierter Digital Health Platforms zur Nutzung aktueller und zukünftiger Daten. Führen Sie eine Evaluierung des europäischen Markts durch Die grenzüberschreitende EU-Initiative MyHealth@EU wird für viele EHDS-Standards sowie einen Großteil der EHDS-Infrastruktur die Grundlage bilden, was jenen EU-Staaten, die sich bereits jetzt an dieser Initiative beteiligen, einen klaren Vorsprung verschaffen wird. Zusammenfassung Mit dem Entwurf zur Schaffung des EHDS erkennt die EU die Digitalisierung von Gesundheitsdaten offiziell als Schlüsselfaktor für Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung, bei Innovationen und im Healthcare-Management an. Ein entscheidender Schritt, denn die Digitalisierung in Form von digitalen, datengesteuerten Lösungen ist essenziell, um eine Vielzahl von medizinischen Versorgungslücken in unserer Gesellschaft schließen zu können. Zur Entwicklung der oben genannten Lösungen braucht es qualitativ hochwertige Daten. Der EHDS bietet in diesem Zusammenhang die großartige Chance, den Zugang zu einem harmonisierten, grenzüberschreitenden Gesundheitsdatenpool aufzubauen und sicherzustellen. Die Zeit drängt, denn die Digitalstrategie der EU sieht eine planmäßige Umsetzung des EHDS bereits bis zum Jahr 2030 vor. Sämtliche Akteure des Healthcare-Sektors – von Anbietern über Hersteller bis hin zu Forschern – sollten daher jetzt die nötigen Vorbereitungen treffen, sowohl für bestehende Produkte als auch im Hinblick auf künftige Innovationsprojekte. Ansprechpartner für Österreich Helmut Taumberger Managing Director Cross Markets, Österreich Helmut Taumberger steht für Digitale Transformation – mit langjähriger Erfahrung und fundierter Innovationskraft. Bei Zühlke ist er Managing Director für Cross Markets in Österreich verantwortlich und steuert die strategische Ausrichtung und Weiterentwicklung. Der Diplom-Ingenieur ist seit 2003 im IT-Bereich tätig und konnte sein umfassendes Know-how bereits in verschiedenen internationalen Unternehmen einbringen. Er lebt für die Kreation von durchführbaren Strategien und möchte Menschen für den technologischen Wandel begeistern. Kontakt Helmut.Taumberger@zuehlke.com +43 664 51 73 935 Schreiben Sie uns eine Nachricht You must have JavaScript enabled to use this form. Vorname Nachname E-Mail Telefonnummer Message Absenden Bitte dieses Feld leer lassen Schreiben Sie uns eine Nachricht Vielen Dank für Ihre Nachricht.