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Apps ohne Mehrwert? Wie DiGAs zur Erfolgsgeschichte werden

In diesem Blogpost schreibe ich, warum ich diese Frage im Moment noch mit „nein“ beantworten würde – und was die DiGAs-Entwickler besser machen könnten. 

Digital Health Applications
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  • 1,5 Jahre nach der Einführung der DiGAs steigt zwar die Anzahl der angebotenen Apps, doch zahlreiche Anträge auf Zulassung wurden zurückgezogen 

  • Gerade MedTech- und Pharmaunternehmen wären hier in einer guten Position, um sich eine neue, digitale Erlösquelle zu erschließen 

  • Jan-Philipp Koch nennt die fünf entscheidenden Faktoren für die Entwicklung von DiGAs: Patient Centricity, Regulierung, Agile Methoden, Kultur und Partnerschaften  

Mit den „Apps auf Rezept“ will Deutschland eine Vorreiterrolle beim Thema „Digitale Lösungen für Patienten“ einnehmen. 1,5 Jahre später kommt das Thema langsam in Schwung, die Anzahl der Verschreibungen steigt. Doch können wir bei den DiGAs schon von einem Erfolg sprechen? In diesem Blogpost schreibe ich, warum ich diese Frage im Moment noch mit „nein“ beantworten würde – und was die DiGAs-Entwickler besser machen könnten. 

Am 20. April 2020 trat die „Digitale Gesundheits-Anwendungsverordnung“ (DiGAV) in Kraft. Sie verpflichtet Krankenkassen, digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) bzw. digitale Pflegeanwendungen (DiPAs) zu erstatten, die nur ein vergleichsweise schnelles und unkompliziertes Freigabeverfahren durchlaufen müssen. Auf einmal war Deutschland – sonst international eher belächelt für Fehlschläge wie die ewig verzögerte Einführung der digitalen Patientenakte – weltweit führend beim Trendthema DigitalHealth. 

Doch wie sieht die Situation heute, fast 2 Jahre später aus? Laut einem Artikel auf dem Gesundheitsportal „Gerechte Gesundheit“ vom 10. November 2021 wurden bisher 85 Anträge beim BfArM gestellt, von denen 19 in dem Verzeichnis aufgenommen wurden, 49 Anträge wurden nach Rückfragen der Prüfer durch die Unternehmen wieder zurückgezogen und fünf wurden abgelehnt. Insgesamt können derzeit 24 DiGAs (Stand: 31.12.2021) verschrieben werden. 

Die Anzahl der Verschreibungen ist laut Umfragen von Handelsblatt Inside von 3000 Verschreibungen im Februar 2021 auf 38 000 im Oktober gestiegen. Die Apps auf Rezept scheinen also – trotz der eher rudimentären Vertriebs- und Informationsstrukturen – langsam Fahrt aufzunehmen. Wird bei den DiGAs also alles gut? 

Nur wenige DiGAs mit „Digital Asset“ 

Was mir beim Blick auf die bisherige Landschaft der DiGAs auffällt ist vor allem: Bislang sind die meisten der Apps auf Rezept technisch augenscheinlich noch sehr einfach gestrickt. Bis auf wenige spannende Ausnahmen bieten DiGAs vor allem bereits vorhandenes Wissen zu Symptomen etc., das digital aufbereitet wurde. Was mir bei vielen Apps noch fehlt, ist ein echtes „Digital Asset“, wie etwa eine echte Personalisierung, erweiterte Interaktionsmöglichkeiten, ein Reward System oder Gamification-Ansätze zur Steigerung des Customer Engagement. 

Analog zum frühen Internet entsprechen die meisten DiGAs für mich dem Web 1.0 – im Mittelpunkt steht vor allem die Übermittlung von Informationen. Doch in Zeiten, in denen beispielsweise interaktive Inhalte und Machine Learning Algorithmen die User Experience in neue Sphären hebt – erhöhen sich die Anforderungen an eine App – insbesondere, wenn dafür Geld gezahlt werden soll. Anbieter sollten sich fragen, für welchen Service sich der Patient entscheidet, sobald mehrere Apps zum gleichen Indikationsfeld auf dem Markt sind? Wir brauchen gewissermaßen die DiGAs 2.0. 

Entwicklungsaufwand wird oft unterschätzt 

Sogar der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung veröffentlichte am 19.08.2021 ein Statement zu der Sinnhaftigkeit und der Notwendigkeit von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) und forderte darin mehr Mut, Qualität und Pragmatismus.

Doch damit ist es nicht getan. Die Entwicklung von Software im Medical-Umfeld ist ein sehr komplexes Unterfangen – das gilt natürlich auch für DiGAs. Wir führen viele Gespräche mit MedTech- und Pharmaunternehmen sowie Startups zu diesem Thema. Dabei stellen wir oft fest: Viele Unternehmen unterschätzen den Aufwand, der mit der Entwicklung einhergeht. Das gilt umso mehr, wenn die App mehr bieten soll als für mobile Devices aufbereitete Informationen (…aus Büchern). Das gleiche gilt – trotz des beschleunigten Freigabeverfahrens – für die regulatorischen Anforderungen an DiGAs. Nicht selten sind sie die Hürde, an der die wirklich innovativen Elemente einer App scheitern. 

Doch worauf kommt es bei der Entwicklung von DiGAs an? Wie entstehen Apps, die nicht nur die regulatorischen Anforderungen erfüllen, sondern auch Ihre Nutzer begeistern, weil sie ihnen einen echten Mehrwert bieten? Hier sind klassische Tugenden aus der Entwicklung von Software as a Medical Device (SaMD) gefragt. Fünf Punkte betrachte ich dabei als zentral: 

  1. Patient Centricity
  2. Regulierung von Anfang an mitdenken 
  3. Agile Entwicklungsmethoden 
  4. Große Unternehmen müssen mehr wie Startups denken und umgekehrt
  5. Partnerschaften und Kooperationen 

1. Patient Centricity

Wir empfehlen jedem Unternehmen, dass DiGAs entwickeln will, die Perspektive der Nutzer von Anfang an in die Entwicklung miteinzubeziehen. Das beginnt schon mit der Frage: Sind Patienten, die an einer bestimmten Krankheit leiden, überhaupt Smartphone-Nutzer? Auch im weiteren Entwicklungsprozess sollte das Produkt immer wieder mit den Nutzern gespiegelt werden. 

Wir erleben bei unseren Gesprächen oft eine große Unsicherheit dahingehend, wann und wie Patientenfeedback integriert werden sollte. Unsere Einstellung zu diesem Thema ist eindeutig: Patientenfeedback muss von Anfang an eine zentrale Rolle im Entwicklungsprozess spielen. Im Bereich des regulierten nutzerorientierten Design Prozesses z.B. durch Interviews und Supervised Prototyping. Nur so können die Bedürfnisse der Patienten früh identifiziert und berücksichtigt werden. 

Bei digitalen Produkten ist die User Experience (oder in diesem Fall Patient Experience) einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren. Im Lauf der nächsten Jahre werden wahrscheinlich immer mehr DiGAs auf den Markt kommen, die die gleichen Indikationsfelder adressieren. Spätestens dann werden die Nutzer entscheiden können, welche App mittel- bis langfristig den größten Mehrwert bietet. Apps, die wirken und bei denen der Patient einen echten medizinischen Mehrwert erkennt, werden dann die Nase vorne haben.

2. Regulierung von Anfang an mitdenken

Prinzipiell ist der Hersteller („legal manufacturer“ oder im aktuellen Fall eher der Gesamtverantwortliche für den Produktlebenszyklus) eines Medizinprodukts, einschließlich SaMD, für die Sicherheit und Wirksamkeit seines Produkts verantwortlich. Gerade Startups sind zwar häufig an vorderster Front mit hervorragenden UX-Experten ausgestattet, verfügen jedoch kaum über erfahrene Softwareentwickler im regulatorischen Umfeld. Oft fehlt das Wissen zu den regulatorischen Anforderungen, um laut DiGAV erstattungsfähig zu sein. 

Hier vermute ich auch einen Grund dafür, dass vier Anträge abgelehnt und ganze 38 wieder zurückgezogen wurden. Wobei bei letzterem wahrscheinlich auch eine Rolle gespielt haben dürfte, dass die Zulassung von DiGAs nicht pausiert werden kann. Eine Ablehnung bedeutet hier das endgültige (regulatorische) Aus der jeweiligen App. 

Gut möglich ist auch, dass Anbieter bestimmte Features aus ihrem Produkt herausnehmen mussten, um durch den DiGA-Prozess zu kommen. Gerade bei digitalen Assets – beispielsweise der Einsatz einer künstlichen Intelligenz (KI) – kann die Zulassung sehr komplex sein. Wir empfehlen daher dringend, die Regulierung einer DiGA von Anfang an mitzudenken. 

Übrigens sind es nicht nur Startups, für die die Zulassung von DiGAs eine Herausforderung darstellt. Zwar sind beispielsweise Pharmaunternehmen für Zulassungsprozesse in der Regel besser aufgestellt und haben zumindest Erfahrung mit den entsprechenden Normen in ihrem Kernbereich. Allerdings fehlt es auch hier teilweise an Erfahrung in der Zulassung von Medizinprodukten, unter die auch medizinische Software/Apps und damit DiGAs fallen. Hier kann die Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern und der gleichzeitige Aufbau interner Kapazitäten Abhilfe schaffen. 

3. Agile Entwicklungsmethoden

Traditionelle Stage-Gate-Prozesse sind für so ein Szenario nicht geeignet – agile Methoden sind gefragt. Sie erlauben es, die größten technischen Risiken und kritischen User-Funktionen gleich zu Beginn des Projektes zu adressieren und die Zielsetzung an neu gewonnene Erkenntnisse anzupassen. Zudem sind sie zuverlässiger, was die Einhaltung des Budgets und des Zeitrahmens angeht. 

Darüber hinaus bieten sie noch weitere Vorteile, der insbesondere bei der Entwicklung von DiGAs eine entscheidende Rolle spielen kann: Sie erlauben frühe User Tests mit einem Minimum Viable Product (MVP). Diese noch sehr frühen Produktversionen können es sogar ermöglichen, genug Daten zu generieren, um einen Algorithmus initial zu trainieren. Wenn die Lösung dann die vorübergehende Zulassung als DiGA erhält, kommen im ersten Jahr noch weitere Daten aus der Anwendung in der Praxis hinzu. 

Allerdings gibt es auch einen Haken bei agilen Entwicklungsmethoden: Ihre Einführung ist alles andere als trivial, insbesondere in großen Unternehmen mit etablierten Strukturen. Der Aufbau agiler Strukturen sollte hier in eine mittel- bis langfristige Strategie eingebettet sein und nicht nur für ein einzelnes Projekt erfolgen. Ein externer Partner wie Zühlke kann dabei helfen, erste Erfahrungen mit agilen Methoden zu sammeln und parallel entsprechende Teams für zukünftige Produktentwicklungen aufzubauen. 

4. Kultur und Mindset

Für Startups sind agile Entwicklungsmethoden oft nichts Neues. In dieser Hinsicht sind sie perfekt ausgerichtet auf die Entwicklung von Software-Lösungen: Hier ist es sehr wichtig, die User Experience oder spezielle Features am Markt zu testen und anschließend sukzessive anzupassen, auszubauen oder wieder abzuschalten – je nachdem wie das Feedback der Kunden ist. Schließlich kommen digitale Lösungen nicht fertig und mit jeglichem Feature-Set auf den Markt. 

Allerdings stehen Startups oft unter Druck, schnell Ergebnisse zu liefern, um ihre Investoren zufrieden zu stellen. Manche Startups ziehen deshalb einen schnellen Marktstart vor, um das vorhandene Marktpotenzial aufzuzeigen. Das kann dazu führen, dass spannende, aber technisch komplexe Features nicht in das erste Release integriert werden. Dieser Gedanke greift jedoch unter Umständen zu kurz: Schließlich wollen Investoren in ein Produkt investieren, das nicht leicht kopiert werden kann. Startups und ihre Investoren sollten hier nach Möglichkeit mehr Geduld aufbringen und den Mehrwert für die Endnutzer stärker gewichten als einen verfrühten Marktstart. Natürlich ist die Schnelligkeit ein wesentlicher Erfolgsfaktor für den Markteintritt, aber die Balance zu neuen Produktfeatures muss eben auch passen. Schließlich geht es darum, Kundenerlebnisse zu schaffen und nicht nur eine weitere App.

Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass ein neues Release immer auch einen neuen regulatorischen Aufwand bedeutet. Somit kann eine kritische Änderung einen aufwändigen Rezertifizierungsprozess nach sich ziehen.

Langsamere DiGAs-Entwicklung bei Pharma und MedTech? 

Pharma- und MedTech-Unternehmen dagegen kommen aus einer Welt, in der das marktfähige Produkt perfekt sein muss, da es sonst Menschen in Gefahr bringt. Daraus lässt sich ableiten, dass diese Unternehmen und Mitarbeiter eine (im Vergleich zu nicht-medizinische oder unerfahreneren Startups) andere Interpretation zu den Themen Risikoaffinität, Entscheidungsschnelligkeit, Prozessgenauigkeit und IP Management haben. Das ist ein Grund, warum sich Pharma- und MedTech-Unternehmen schwerer tun und mehr Zeit benötigen, um digitale Lösungen wie DiGAs in-house zu entwickeln, als Startups. 

Pharmaunternehmen sollten sich öfter von der gewohnten Perfektion lösen und schneller ein erstes MVP auf den Markt zu bringen. So können sie Erfahrungen sammeln und ihren Service kontinuierlich verbessern, anstatt einen großen Wurf zu machen und dann auf einen Erfolg zu hoffen. Dabei gehören potenzielle Fehler zum Geschäft. 

Ein weiterer Punkt, bei dem Pharmaunternehmen von Startups lernen können, ist das interne Alignment, vor allem zwischen den Abteilungen, die Technologie vorantreiben und dem Business. Hier haben Startups aufgrund ihrer Größe einen natürlichen Vorteil. Was in Pharma- und MedTech-Unternehmen oft unterschätzt wird, ist: Prinzipiell hat jede Technologie, wie ein Cloud-Backend, Video Streaming, Chatbots oder personalisierte KI-basierte Empfehlungssysteme, Auswirkungen auf das Business. Deshalb ist es enorm wichtig, dass Entscheidungen zu Technologien nicht nur im jeweiligen Entwicklungsteam getroffen, sondern auch mit dem Business abgestimmt werden.

5. Partnerschaften als Königsweg?

Pharmaunternehmen sollten also ein wenig mehr agieren wie Startups – und Startups sollten sich stärker an den klassischen Tugenden der Pharmaunternehmen orientieren. Eine weitere spannende Möglichkeit liegt daher auf der Hand: Die Zusammenarbeit zwischen Pharma- oder MedTech-Unternehmen und Startups, idealerweise moderiert durch einen Partner, der beide Welten versteht. 

Für Pharma- und MedTech-Unternehmen gibt es viele gute Gründe, digitale Anwendungen zu entwickeln: So erzielen sie zum einen neue Revenue Streams und können andererseits durch Companion Apps oder Telehealth-Lösungen die Wirkung von verabreichten Medikamenten steuern und verbessern. Allerdings fehlt es hier oft an Entwicklungskapazitäten und auch an Erfahrungen in elementaren Bereichen wie beispielsweise UX. Bei jedem digitalen Projekt stehen Pharma- und MedTech-Unternehmen daher vor der Frage: Make, Partner or Buy? 

Für Startups dagegen sind insbesondere die etablierten Vertriebskanäle von Pharma- und MedTech-Unternehmen zu Ärzten und anderen Healthcare Providern interessant. Dazu kommt, dass die potenziellen Partner aus Pharma und MedTech über spannendes biomedizinisches Know-how und oft auch über eine breite Datenbasis verfügen. Beides kann die Entwicklung von DiGAs deutlich einfacher machen. 

Startups und Pharma- bzw. MedTech-Unternehmen ergänzen sich in ihren jeweiligen Stärken also ausgezeichnet. Deshalb bin ich mir sicher, dass wir im Zusammenhang mit DiGAs hier noch deutlich mehr Kooperationen, Partnerschaften und Übernahmen sehen werden. Wie immer, wenn zwei sehr unterschiedliche Partner zusammenkommen, gibt es eine Menge Konfliktpotenzial. Hier kann es sinnvoll sein, mit einem externen Koordinator wie Zühlke zu arbeiten. 

Fazit 

Wenn man bedenkt, wie neu das Thema DiGA ist und unter Berücksichtigung des aktuellen Reifegrads haben die DiGAs 1.0 mit Sicherheit ihre Daseinsberechtigung. Viele der Apps sind vielleicht auch tatsächlich eher als MVPs zu verstehen und werden in den kommenden Monaten noch weiterentwickelt. Dazu kommt: Die größeren Pharma- und MedTech-Unternehmen steigen erst jetzt auf den DiGA-Zug auf. Im Juli hat mit Sanofi das erste dieser Unternehmen eine eigene DiGA angekündigt – den Insulindosisfinder „My Dose Coach“. 

Wir dürfen also sehr gespannt sein, wie es in diesem Bereich weitergeht. Und ob Deutschland sich doch noch zum Pionier für Digital Gesundheitsanwendungen mausert. 

Jan-Philipp Koch
Ansprechpartner für Deutschland

Jan-Philipp Koch

Principal Business Developer

Als Innovationspartner unterstützt Jan-Philipp Banken und andere Finanzdienstleistungsunternehmen bei der Entwicklung von datengetriebenen Geschäftsmodellen sowie digitalen Lösungen und Prozessen. Er bringt Erfahrungen als Berater aus einer Technologie- und Managementberatung mit und damit umfangreiche Kenntnisse in den Bereichen Data, Machine Learning und Blockchain.

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