Medizintechnik & Gesundheitsindustrie

Digitalisierung MedTech: Fünf Tipps aus der Praxis

Zukunft Medizintechnik
10 Minuten Lesezeit
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  • Um die Chancen zu nutzen, die sich aus den globalen Megatrends ergeben, müssen MedTech-Unternehmen einige große Herausforderungen meistern.

  • Die digitale Transformation bietet hier eine Menge spannender Lösungen – doch die Einführung ist alles andere als einfach.

  • Wie MedTech-Unternehmen erfolgreich in die digitale Transformation starten können, verraten fünf Tipps aus der Zühlke Projektpraxis.

Die aktuelle Situation rund um COVID19 hat einigen Medizintechnik-Unternehmen einen kleinen Boom beschert, allen voran Herstellern von Beatmungsgeräten, Schutzmasken- und Kleidung sowie von Desinfektionsmitteln. Doch die jüngsten Erfolgsmeldungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Branche auch vor großen Herausforderungen steht. In diesem Blogpost erfahren Sie, welche Herausforderungen wir sehen, wie Digitalisierung hier helfen kann und welche fünf Punkte Unternehmen dabei beachten sollten.

Auch von den jüngsten Corona-bedingten Erfolgsmeldungen abgesehen geht die Medizintechnik-Branche oberflächlich betrachtet einer rosigen Zukunft entgegen: Die fortschreitende Alterung unserer Gesellschaft und weitere Faktoren sorgen dafür, dass der Bedarf nach Lösungen im Healthcare-Bereich und damit auch nach Medizingeräten steigt. Das gilt besonders für Devices und Sensoren – zwei Domänen, in denen Medizintechnik-Unternehmen über spezifisches und aktuell sehr gefragtes Know-how verfügen. Dazu kommen spannende Möglichkeiten in Märkten wie China, Indien und Südamerika, die ein großes Wachstum versprechen.

Große Herausforderungen für Medizintechnik-Unternehmen

Doch die jüngsten Erfolgsmeldungen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eben genannten Chancen genau wie die Situation allgemein auch große Herausforderungen für Medizintechnik-Unternehmen mit sich bringen. Das beginnt schon bei den vielversprechenden neuen Märkten. Diese verfügen über eine vollkommen andere Kostenstruktur. Geräte müssen hier deutlich günstiger sein – beispielsweise gibt es für Entwicklungsländer erste einfache Beatmungsgeräte zu Herstellkosten von 250 Euro. Unvorstellbar für Europa, da auch die Funktionen weit unter dem liegen, was bei uns akzeptabel wäre. Dazu kommen regulatorische Anforderungen, die zwar einfacher, aber auch sehr verschieden sind von den bisher gewohnten Märkten.

Unternehmen, die diese Märkte bedienen wollen, müssen also Produkte gezielt dafür entwickeln. Parallel dazu entstehen weiterhin hoch komplexe Geräte für Europa und die USA. Die benötigten Entwicklungsprozesse unterscheiden dabei sich grundlegend voneinander.

Eine weitere Herausforderung sind die gestiegenen bzw. veränderten Anforderungen der aktuellen Abnehmer in den hiesigen Märkten: Da Gesundheitssysteme immer mehr Geld benötigen, herrscht bei vielen Abnehmern, wie etwa bei Krankenhäusern, ein stärkerer Sparzwang. Aktuell wird dieser Trend teilweise sogar noch dadurch verstärkt, dass Krankenhausbetten freigehalten werden müssen, was zu geringeren Umsätzen bei gleichbleibenden Kosten für die Klinikbetreiber geführt hat. Die Folge ist eine sinkende Bereitschaft für Investitionen in neue Geräte. Gleichzeitig wird es immer wichtiger, solche Investitionen gut belegen zu können, etwa durch nachweislich gestiegene Patient Outcomes.

Technologieriesen als Konkurrenz für die Medizintechnik?

Eine dritte Herausforderung für Medizintechnik-Unternehmen ist die allgemeine Situation im Marktumfeld: Auf der einen Seite dringen die Technologieriesen Amazon, Apple, Google & Co. immer stärker in Bereiche vor, die bisher eine reine MedTech-Domäne waren. Sie setzen dabei weniger auf komplexe, regulierte Produkte, sondern auf konsumentenorientierte Geräte mit Sensorik wie etwa Smartwatches oder Fitnessarmbänder. Aber auch für Blutdruckmessung über Smartphones gibt es bereits erste Ansätze. Die Daten dieser Devices dienen dann dazu, Algorithmen zu trainieren. Dieser Big-Data-Ansatz kann mit einfachen Sensoren erstaunliche Ergebnisse hervorbringen, die, wenn überhaupt, nur mit deutlich komplexeren Produkten möglich wären. Ein Beispiel hierfür ist etwa Amazons Alexa, die womöglich bald Krankheiten wie Alzheimer oder Depressionen erkennen kann.

Auf der anderen Seite tummeln sich im Healthcare Ecosystem immer mehr Startups, die zunehmend zu einer ernsthaften Konkurrenz werden. Das gilt vor allem aber nicht ausschließlich für Produkte, die näher am Konsumenten angesiedelt sind. Hier bieten die Startups zum Teil hochattraktive Produkte und Services an und sind bei deren Entwicklung und Weiterentwicklung oft deutlich schneller und agiler als traditionell geprägte Unternehmen. Ein Beispiel hierfür ist etwa Noctrix Health, Inc., die wir im Rahmen von Zühlke Ventures begleiten. Das Startup hat gerade die Zulassung der FDA für ein Device zur Behandlung des Restless Legs Syndrome erhalten – eine Möglichkeit, diese Krankheit ohne Nebenwirkungen evidenzbasiert und deutlich günstiger als bisher zu behandeln und dabei gleichzeitig die Ergebnisse der Behandlung nachzuverfolgen.

Wie können Medizintechnik-Unternehmen reagieren?

Medizintechnik-Unternehmen sehen sich also aktuell Herausforderungen aus zwei Richtungen gegenüber: Auf der Seite der Nachfrage sowohl bei den aktuellen als auch bei neuen Kunden und auf der Angebotsseite durch neue Konkurrenten. Die entscheidende Frage ist: Wie können sich die Unternehmen aufstellen, um auf diese Herausforderungen zu reagieren und gleichzeitig die sich bietenden Chancen besser zu nutzen?

Ganz abstrakt gesprochen gibt es hier zwei Wege. Zum einen müssen die Unternehmen effizienter und besser bei dem werden, was sie aktuell tun: Sie müssen Produkte schneller entwickeln, die die Bedürfnisse der Nutzer besser erfüllen und gleichzeitig noch günstiger sind. Zum anderen müssen sie neue Wege gehen, sich neue Geschäftsfelder erschließen bzw. neue Geschäftsmodelle etablieren, seien es Geräte für den wachsenden Homecare-Markt oder z.B. Pay-per-use-Lösungen für Krankenhausanbieter. Aus unserer Sicht werden diejenigen Medizintechnik-Unternehmen langfristig am erfolgreichsten sein, die sich nicht als Hersteller von Medizingeräten begreifen, sondern als Anbieter von ganzheitlichen Lösungen im Gesundheitsbereich.

Spätestens hier wird klar, warum die Digitalisierung im Gesundheitswesen immer stärker zum entscheidenden Erfolgsfaktor wird: Sämtliche oben beschriebenen Punkte wie schnellere Entwicklung, Bedürfnisse der Abnehmer in den Fokus rücken, Kosten senken, flexibler werden, neue Geschäftsmodelle entwickeln, sind klassische „Tugenden“ der digitalen Transformation.

So kann die Digitalisierung gelingen

Doch wie wird man zum „digitalen Champion“? Schließlich ist Digitalisierung kein Produkt, das man kaufen und installieren kann. Man benötigt Wissen, wie man bezogen auf Produkte, Prozesse, Plattformen und Geschäftsmodelle digitale Ansatzpunkte identifiziert und umsetzt. Dazu kommt: Ein Patentrezept, das für jedes Unternehmen funktioniert, gibt es nicht. Dazu existieren einfach zu viele Parameter, die beachtet werden müssen. Ein paar Key Learnings, die uns bei Zühlke im Rahmen von Digitalisierungsprojekten immer wieder begegnen, kann ich Ihnen aber dennoch mit auf den Weg geben:

1. Keine Rücksicht auf eigene Produkte und Geschäftsmodelle:

Viele Unternehmen kommen auf ihrem Weg in die Digitalisierung früher oder später in eine Konfliktsituation: Wenn neue Produkte und Geschäftsmodelle die bestehenden bedrohen. Hier ist es wichtig, keine Denkverbote aufzustellen und interne Filter möglichst auszuschalten. Schließlich werden andere Anbieter überhaupt keine Rücksicht auf Ihr Geschäftsmodell nehmen. Und selbst wenn daraus keine konkreten Produkte werden – allein das Nachdenken über solche „Konkurrenz aus dem eigenen Haus“ kann wertvolle Ergebnisse liefern. Es hilft dabei, dem Wettbewerb einen Schritt voraus zu sein und eventuelle Schwächen am eigenen Angebot auszumachen. Das Ergebnis können wertvolle Impulse für Verbesserungen und Weiterentwicklungen sein.

Natürlich ist es gar nicht so einfach, die gewohnten Scheuklappen abzusetzen. Doch es gibt Maßnahmen, die dabei helfen können: Angefangen bei einem Ortswechsel, z.B. für einen Kreativ-Workshop, über einen Digital Innovation Partner bis hin zu einem ausgelagerten Innovation Lab bzw. Inkubator.

2. Mut zur Lücke – Handeln statt Strategien entwerfen:

Die goldene Mitte zu treffen zwischen blindem Aktionismus und dem „Overengineering“ von Strategien ist alles andere als einfach. Unsere Erfahrung zeigt, dass Unternehmen in der DACH-Region eher zu letzterem neigen und auf der Suche nach der „perfekten“ Strategie sind, mit der sie keine Fehler machen. Dabei ist genau das ein wesentlicher Bestandteil der digitalen Transformation: Im Kleinen Ausprobieren, Fehler machen und möglichst schnell daraus lernen. Mut zur Lücke ist hier ein entscheidender Punkt – sonst nehmen agilere Unternehmen die Marktchancen wahr. Geschwindigkeit ist im Zweifel wichtiger als Vollständigkeit.

Hier tun sich viele Unternehmen in der DACH-Region schwer, da sie oft noch über sehr lange Entscheidungswege verfügen. Die stellen ein Hindernis dafür dar, Angebote frühzeitig am Markt zu verproben und sich Feedback zu holen. Dieses Feedback ist elementar und liefert wertvolle Impulse – etwa zu fehlenden Features oder zur Bedienung des Gerätes. Gerade der Kontakt zu den Endnutzern der Produkte ist hierbei besonders wichtig als Teil eines User-Centered-Design-Ansatzes. Der hilft übrigens nicht nur bei der Etablierung am Markt, sondern auch dabei, Geräte sicherer zu machen!

3. Denken in Ökosystemen

Im Gesundheitswesen gilt noch mehr als in den meisten anderen Branchen: Neue Produkte und Geschäftsmodelle existieren in der Regel nicht für sich allein – sie sind immer eingebettet in Lösungen anderer Akteure. Die entscheidenden Fragen bei der Entwicklung neuer Produkte und Services lauten dabei: Wo kann es hier Synergien geben? Wer könnte eventuell noch von einem Geschäftsmodell profitieren? Wie kann man mit anderen Akteuren gemeinsam eine Lösung nachhaltiger gestalten?
Eine gute Orientierungshilfe kann es hierbei sein, von einer „Patient Journey“ oder vom „Digital Therapy Management“ auszugehen und sich die Fragen zu stellen: Wie kann ich mit meinem Unternehmen oder meiner Abteilung dazu beitragen? Und mit wem muss ich dafür zusammenarbeiten?

4. Daten „mitdenken“

Wenn es um die Zusammenarbeit im Healthcare Ecosystem geht, dann sind oft Daten das Kommunikationsmittel. Die Fähigkeit, Daten zu gewinnen, sie sicher zu übertragen und bestmöglich zu nutzen ist womöglich der wichtigste Erfolgsfaktor im Rahmen der Digitalisierung. Daten bergen nicht nur wertvolle Informationen, sie sind vor allem auch die Grundlage für spannende neue Geschäftsmodelle. Ob es um zusätzliche Services geht oder neue Bezahlmodelle wie beispielsweise pay-per-use: Die Grundlage sind immer Daten.

Das gilt im Übrigen auch für die heikelsten Daten überhaupt: Gesundheitsdaten. Mit denen müssen sich Unternehmen ohnehin spätestens auseinandersetzen, wenn es um deren Schutz geht. Doch auch deren Nutzung wird immer mehr zur Option. Methoden wie „Federated Learning“ sollen es beispielsweise ermöglichen, Algorithmen an kompletten Datensätzen zu trainieren, ohne dass die Daten an sich zugänglich sind. Der Ansatz von Ocean Protocol geht in eine ähnliche Richtung und soll jedem Nutzer eine sehr gezielte Steuerung ermöglichen, wer Zugriff auf welche Daten bekommt – bis hin zu einem Markt für Gesundheitsdaten. Wer sich jetzt mit diesem Thema auseinandersetzt, hat die Chance, diesen Markt entscheidend mitzuprägen.

5. Starten mit einem soliden Business Case als Grundlage

Prinzipiell gilt: Innovation ist keine Alchemie. Sie lässt sich, bei aller Unsicherheit, sehr gut planen. Identifizieren Sie die low hanging fruits und rechnen sie durch: Was muss erfüllt sein, damit sich die Investition rechnet? Und wie realistisch sind diese Annahmen? Unter Umständen lohnt es sich, hier einen erfahrenen Partner hinzuzuziehen. So entstehen solide recherchierte Business Cases – die sicherstellen, dass sich Ihre Innovationsprojekte auch rechnen und das Unternehmen nachhaltig voranbringen.

Fazit:
COVID19 hat in vielen Branchen deutlich gezeigt, dass es noch Nachholbedarf im Bereich der Digitalisierung gibt. Die MedTech-Branche steht hier also nicht allein da. Wichtig ist es, die aktuelle Situation zu nutzen und die aufgezeigten Schwachstellen jetzt anzupacken. So kann aus der aktuellen Krise dann nicht nur für die Hersteller von Beatmungsgeräten auch eine echte Chance werden!

Sehr gerne steige ich mit Ihnen in diese Diskussion ein – von der ersten Idee bis zum fertigen digitalen Produkt!

Jörg Sitte
Ansprechpartner für Deutschland

Jörg Sitte

Director Business Development

Jörg Sitte verantwortet als Director Business Development die Geschäftsentwicklung der Branchen Maschinen-/Anlagenbau und MedTech in Süddeutschland. Er beschäftigt sich intensiv mit IoT und Digitalisierungsprojekten sowie allen dafür erforderlichen Disziplinen wie Software (Embedded, Cloud und Apps), Elektronik, Sensorik und Mechanik/Konstruktion. Er ist davon überzeugt, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen immer stärker von einer erfolgreichen Digitalisierungsstrategie bestimmt wird. 

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