Medizintechnik & Gesundheitsindustrie

Die Krise als Chance für unser Gesundheitssystem?

Doch schon jetzt lässt sich erkennen, wie unser Gesundheitssystem die Krise bewältigt hat und wo es Schwachstellen gibt. Wir haben uns Gedanken gemacht, wie und an welchen Stellen die Digitalisierung hier helfen kann – kurzfristig, aber auch auf lange Sicht.

Doctor examines a petri dish
8 Minuten Lesezeit

  • Digitalisierung kann unser Gesundheitswesen effektiver machen.

  • Wir sehen bei den Gesundheitssystems den größten Hebel für digitale Lösungen.

  • Künstlicher Intelligenz kann helfen, Wissens- oder Erfahrungslücken bei Diagnose und Behandlung zu schließen.

Das Coronavirus (genauer SARS-CoV-2) hat unser Leben in kürzester Zeit verändert. Die langfristigen Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und unser Zusammenleben sind noch nicht vollständig abschätzbar.

Doch schon jetzt lässt sich erkennen, wie unser Gesundheitssystem die Krise bewältigt hat und wo es Schwachstellen gibt. Wir haben uns Gedanken gemacht, wie und an welchen Stellen die Digitalisierung hier helfen kann – kurzfristig, aber auch auf lange Sicht.

Mediziner gehen davon aus, dass SARS-CoV-2, ähnlich wie die Grippe, bei uns endemisch werden wird. Es wird also vom Gelegenheitsbesucher zum Dauergast, der in regelmäßigen Abständen immer wieder auftauchen wird. Wir müssen also aktuell davon ausgehen, dass auch in Zukunft Krankheitserreger wie SARS-CoV-2 einen großen Einfluss auf unseren Alltag haben werden und sollten darauf vorbereitet sein.

Bei einer Virus-Pandemie richten sich alle Augen auf das Gesundheitswesen. Hierbei bestätigt die aktuelle Krise, was in Deutschland das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie bereits 2018 festgestellt hat: dieser Bereich zählt bei der Digitalisierung eher zu den Schlusslichtern. Die Gründe hierfür sind vielfältig – der hohe Grad der Regulierung dürfte einer der wichtigeren sein.

Dabei könnte die Digitalisierung unser Gesundheitswesen deutlich effektiver machen – in aktuellen aber vor allem auch in zukünftigen Krisensituationen. Wir haben einige Bereiche des Gesundheitssystems unter dem Einfluss der aktuellen Krise beleuchtet und skizzieren mögliche Wege in eine digitalere und bessere Zukunft. In diesem ersten Teil beschäftigen wir uns mit den  Hausarztpraxen bzw. der ambulanten Versorgung sowie den Krankenhäusern bzw. der stationären Versorgung. Im zweiten Teil befassen wir uns mit den Medizintechnikherstellern, den Laboren bzw. der Diagnostik und der Pharmaindustrie.

Hausarztpraxen bzw. ambulante Versorgung

Patienten, die „normale“ Erkrankungen haben, können in Zeiten einer Pandemie nicht vor Ort in der Praxis ihres Hausarztes versorgt werden. Obwohl einige Notfälle per Telefon abgeklärt werden können, fehlen wichtige diagnostische Werkzeuge. Es ist zu befürchten, dass sich dadurch viele Therapien verzögern und damit höhere Kosten für das Gesundheitssystem verursachen. Deshalb sehen wir an der Basis des Gesundheitssystems den größten Hebel für digitale Lösungen.

Kurzfristig: Besserer Datenschutz für Arztgespräche per Video

Eine kurzfristige und günstige Lösung stellt das Arztgespräch per Video dar. Viele Ärzte sind bereits zwischenzeitlich auf Video-Portale ausgewichen, um zumindest einen visuellen Eindruck ihrer Patienten zu erhalten. Vitalwerte wie Blutdruck, Puls und Lungengeräusche lassen sich so allerdings nicht zuverlässig erheben. Immerhin bekommt der behandelnde Arzt zumindest einen ersten Eindruck vom Patienten und kann unter Umständen bereits erste Therapieschritte einleiten. Die Kassenärztlichen Vereinigungen in der Schweiz haben diesbezüglich bereits reagiert und die Begrenzungsregelungen für Video-Konsultationen aufgehoben. Leider sind viele Arztpraxen noch nicht mit der notwendigen Technologie ausgestattet. Es fehlt oft an Kameras für die Arbeitsrechner und an entsprechender Video-Chat Software.

In einem Patienten-Arzt Gespräch werden in der Regel vertrauliche Informationen ausgetauscht. Deshalb kommen die gängigen Video-Portale (Skype, Zoom ect.) nur dann in Frage, wenn der Patient schriftlich darüber informiert wurde, dass das Datenschutzgesetz eventuell nicht eingehalten wird und er seine Zustimmung dazu gibt. Ein Alternative stellen zertifizierte und kostenfreie Video-Dienste wie zum Beispiel von Health Info Net AG (HIN) dar. Für Fortbildungen über Video können hingegen die gängigen Portale genutzt werden.

Mittelfristig: Einbindung in die Abrechnungssysteme

Video-Konsultation gekoppelt mit einer automatisierten Dokumentation durch Spracherkennung und einer soliden Absicherung mit moderner Verschlüsselung wird mittelfristig viele Arztbesuche ersetzen. Die automatisierte Verknüpfung der so erzeugten Dokumentation mit den Abrechnungssystemen wird einen weiteren Zugewinn an Produktivität mit sich bringen und das nicht nur in Krisensituationen. So haben Ärzte insgesamt mehr Zeit für die wichtigen Themen bei der Behandlung.

Dazu kommt: Viele modernen Diagnosegeräte sind bereits mit Technologien ausgestattet, die eine Übertragung von Daten an ein Smartphone oder direkt ins Internet erlauben. Trotz der verfügbaren Verbindungstechnologie ist die Integration der Geräte in die bestehende IT-Infrastruktur allerdings bisher noch nicht sonderlich fortgeschritten. Aus unserer Sicht ist das ein sehr interessanter Ansatzpunkt. Mit einer zusätzlichen Integration der Gerätedaten in eine elektronische Patientenakte würde auch hier der Aufwand für die Dokumentation deutlich sinken.

Langfristig: Entlastung durch KI-basierte Lösungen

Viele Spezialärzte mussten während Corona ihre Praxen mangels Nachfrage ebenfalls schließen. Deshalb waren und sind viele Hausarztpraxen mit Fällen konfrontiert, die sie normalerweise an Kliniken oder Spezialisten überwiesen hätten. Hier könnten Gesundheitsanwendungen auf Basis von künstlicher Intelligenz dabei helfen, Wissens- oder Erfahrungslücken zu schließen. Die Apps sind dabei dafür konzipiert, Ärzte bei ihrer Arbeit zu unterstützen und nicht, diese zu ersetzen – AI als «Augmented Intelligence». Eine weitere spannende Idee ist es, die ersten Schritte der Anamnese über einen Chat-Bot zu führen. Hier gibt es bereits erste vielversprechende Ansätze die zeigen, dass solche KI-basierten Lösungen die Effizienz des Gesundheitssystems «an der Front» deutlich verbessern können. Unklar ist allerdings, ob die nötige Akzeptanz für solche Lösungen bei den niedergelassenen Ärzten und in der Bevölkerung heute schon gegeben ist.

Krankenhäuser / stationäre Versorgung

Krankenhäuser sind die neuralgischen Punkte während einer Pandemie. Steigt die Hospitalisierungsrate über die Intensivkapazität eines Landes, kommt es zum Kollaps. Viele Massnahmen während der Corona-Krise hatten nur ein Ziel: Eine Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern. Wäre es möglich die Kapazitäten der Krankenhäuser effizienter auszunutzen und flexibler zu steuern, könnte man die Maßnahmen zur Eindämmung eines Virus deutlich weniger drastisch gestalten.

Kurzfristig: Patientenverfügung per Tablet

Die Aufklärung und Information der Patienten und Angehörigen nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, gerade dann, wenn die Sprache zur Barriere wird. Auf einer App könnten die wichtigsten Fragen beantwortet werden. Eine einfache, automatische Übersetzung sowie die Möglichkeit für die Spitäler, gewisse Inhalte selbst zu ergänzen wären hilfreich. Weiterhin haben viele Patienten keine Patientenverfügung oder sie liegt zu Hause.

Da während einer Pandemie keine Angehörigen im Krankenhaus zugelassen werden, sind gerade ältere Menschen häufig überfordert. Eine App auf einem Tablet, welche mit altersgerechten Infoblöcken und Videos bei der Beantwortung der wichtigsten Fragen hilft, könnte hier einen großen Mehrwert schaffen. Die App könnte den entstehenden Text per E-Mail zur Kontrolle an die Angehörige senden. Das Spital erhält dann einen elektronischen Auszug mit den wichtigsten Anweisungen zur Ablage im Krankenhaus-Informationssystem. Mit modernen Low-Code-Ansätzen, wie zum Beispiel Mendix von Siemens, können solche Apps kurzfristig und mit wenig Aufwand erstellt werden.

Mittelfristig: Digitale Checklisten und Kommunikationssysteme

Das Betreten und Verlassen von Quarantänestationen, die oft als Unterdrucksystem realisiert sind, ist für das Personal sehr aufwändig. Das benötigte Material muss eingeschleust und gereinigt werden. Wird etwas vergessen, muss der gesamte Prozess wiederholt werden. Oft werden innerhalb der Quarantänestationen Notizen handschriftlich angefertigt und können dann ausserhalb nicht mehr weitergereicht werden. Hier würden digitale Checklisten und eine digitalisierte Kommunikationslösungen dabei helfen die physischen Grenzen der Quarantänestationen effizient zu überwinden.

Als die Hospitalisierungen während der Corona-Krise auf dem Höhepunkt waren, wurde schnell klar, dass die Personaldisposition in den Krankenhäusern an ihre Grenzen stösst. Digitale Einsatzplanungsplanungswerkzeuge, die Paradigmen aus der agilen Welt, wie Kanban und Scrum berücksichtigen, könnten hier eine Lösung bieten. Für eine kurzfristige Umsetzung könnten Standardwerkzeuge, die bereits zur Verwaltung von Tickets in der Softwarewartung eingesetzt werden, für einen Einsatz im Krankenhaus umkonfiguriert werden.

Langfristig: Onboarding-Apps und Robotik-Systeme

Die Aufnahme im Spital ist ein kritischer Prozessschritt bei einer Pandemie. Die Triage der Patienten erfordert viel Personal, welches über eine gewisse medizinische Grundausbildung verfügen muss. Dieses Personal steht dann nicht für die medizinische Versorgung innerhalb des Spitals zur Verfügung. Wir kennen aus anderen Branchen bereits Onboarding-Apps, die die Effizienz bei der Triage deutlich erhöhen könnten. Hier wird das zuständige Personal von einem Software-System durch die Prozesse geleitet und die aufgenommen Daten werden automatisch an das Krankenhaussystem weitergeleitet. Aber Achtung: da diese Software-Lösung in den Behandlungspfad eingreift und dadurch potenziell das Leben von Patienten gefährden kann, muss sie unter Berücksichtigung von geltenden Medizin-Normen entwickelt werden. Die Entwicklung solcher Unterstützungssysteme wird also noch etwas Zeit in Anspruch nehmen.

Die Patienten, die mit COVID-19 auf der Intensivstation hospitalisiert waren, hatten mit überdurchschnittlich langen Liegezeiten zu kämpfen. Das ist auch für das Pflegepersonal eine große Herausforderung, da die Patienten rund um die Uhr betreut und mehrfach gewendet werden müssen. Teilweise sind dafür 4-5 Personen notwendig. Die Beatmung in Bauchlage ist hierbei eine besondere Herausforderung. Technische Hilfsmittel und Assistenzsysteme könnten die Pflegekräfte hierbei unterstützen. Kooperative und sichere Robotik-Systeme sind in anderen Branchen bereits weit verbreitet. Aus unserer Erfahrung sind bei der Entwicklung solcher Hilfsmittel neben den regulatorischen Vorgaben besonders die Bedürfnisse der Pflegekräfte – also der Nutzer – entscheidend.